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Entwicklung des Kinderwagens

 

Seit seiner Entstehung bis in die heutige Zeit hinein wurde der Kinderwagen vielen Veränderungen und Erneuerungen unterzogen. Im Augenschein des Konstrukteurs und des Nutzers oder in dessen Umfeld, stand und steht der technische Fortschritt und die Zweckmäßigkeit, genau wie der modische Aspekt, eine wirkungsvolle Kombination aus Form und künstlerischer Gestaltung, gleichermaßen im Vordergrund.

Der Kinderwagen ist deshalb zugleich Wegweiser für neuste Errungenschaften des Mobilbaus, wie auch Abbild solcher Entwicklungen, die durch ihre Anwendung das Fahren und Schieben erleichterten und ein bequemeres Liegen bzw. Sitzen für das Kind zu Folge hatten.

Im 19.Jahrhundert als handwerklich angefertigter Gegenstand war jeder Kinderwagen ein Unikat. Mit der steigenden Nachfrage reichte die Anzahl dieser einmaligen Exemplare nicht mehr aus. Die Industrialisierung setzte sich auch in der Kinderwagenherstellung durch, so dass am Ende des 19.Jahrhunderts hohe Produktionen vor allem in den Geburtsländern des Kinderwagens, Deutschland und England, zu verzeichnen waren.

Einhergehend mit der Umstellung auf industrielle Fertigung des Produktes Kinderwagen waren tiefgreifende und bedeutende Umgestaltungen und Erneuerungen im äußeren Erscheinungsbild des Kinderwagens zu verbuchen.

Im Begleitheft des Kinderwagenmuseums Zeitz äußert man sich folgendermaßen über die bedeutungsvollste Veränderung während der nun schon 150-jährig andauernden Entwicklung: „Die wichtigste konstruktive Veränderung erfolgte in den 60er Jahren des 19.Jahrhunderts mit der Ablösung des Ziehwagens durch den geschobenen Wagen. Gleichzeitig erhielt der Kinderwagen ein aus Eisenbändern geschmiedetes Untergestell, das zur Erhöhung und Federung des Korbes diente. Der Vorteil des geschobenen Wagens bestand darin, dass eine bessere Aufsicht des Kindes und die sichere Handhabung des Wagens gewährleistet wurde.“14

 

Das Schieben vereinfachte und erleichterte den Umgang mit dem Kinderwagen deutlich, da das Ziehen sehr mühevoll und anstrengend war.

Besonders der Augenkontakt zwischen Kind und Fahrer, meistens Mutter oder Kindermädchen, sorgte für eine tiefere Bindung und unterstützt bis heute die Kommunikation. Außerdem ermöglicht der Blickkontakt eine bessere Beaufsichtigung des Kindes, um dieses vor Gefahren schützen zu können.

Kennzeichnend für die ersten Kinderwagen, die um 1850/60 gebaut wurde, waren Holzräder, wobei man bevorzugt Buchenholz verwendete, die mit Eisenreifen überzogen waren. Die praktische Umsetzung der Radherstellung stellte sich als sehr umständlich und zeitaufwendig heraus, so dass sie sich nicht für eine industrielle Fabrikation eignete.

 

Auch Städte und Länder investierten in den Straßenbau und in den Ausbau des Verkehrswesen. Positiv wirkte sich die verbesserte Verkehrslage auch auf die Nutzer des Kinderwagens aus, denn einst schlecht befahrbare, holprige Straßen und Wege wurden ausgebaut und verbessert. Diese Veränderungen beeinflußten somit auch die Fahrqualität und Bequemlichkeit in einer positiven Art und Weise. Ebenso tüftelten viele Konstrukteure, durch Veränderungen an der Bereifung, an verbesserten Fahreigenschaften.

Das Einsetzen von Eisen- bzw. Stahlrädern, nach englischem Vorbild, in der Kinderwagenindustrie, setzte sich bis 1890 durch. Auf der Eisenfelge wurde eine Gummischicht angebracht, so war es gelungen ein leichteres und weniger lärmendes Rad zu entwickeln, was zudem noch industriell hergestellt werden konnte. Die Beschaffenheit und die Qualität dieser Räder waren so überzeugend, dass sich diese Art des Rades bis in die 20er Jahre gegen vielfältige Konkurrenz behaupten konnte.

Der intensive Handel mit Kinderwagen kam um 1880 richtig in Gang, wobei schon eine große Anzahl unterschiedlicher Modelle in Form und Gestaltung angeboten wurden.

Aus dem Fahrradbau übernommen, wendete man in der Mitte der 20er Jahre die sogenannte Hohlfelge im Kinderwagenbau an, wobei diese mit einem Gummireifen überzogen war. Vorteilhaft erwies sich dieser Radtyp, dessen Gummiüberzug aus einem Stück gefertigt war, da trotz veränderter Witterungsverhältnisse, mal heiß mal kalt, der Reifen seine Form beibehielt.15 Bis in die 60er des 20.Jahrhunderts behauptete dieser Radtyp seine Vorrangstellung in der Herstellung von Rädern für Kinderwagen und Kinderfahrzeuge z.B. für Dreiräder und Tretroller.

 

Seit Ende der 40er/ Anfang der 50er Jahren fand die Luftbereifung verstärkt in der Räderherstellung für Kinderwagen Anwendung. Charakterisiert durch Elastizität und Weichheit unterstützen sich den Fahrkomfort für Eltern und Kind. Auch heute weisen moderne Kinderwagen diese Art der Bereifung auf, wodurch die Qualität und der Vorzug bestätigt werden kann.

Im Laufe der Zeit beschäftigten sich Firmen und Konstrukteure mit der Frage nach der optimalen Lösung für das Federungsproblem.

Schon aus dem 16. Jahrhundert waren Blattfedern bekannt, die bei Kutschen und anderen Wagen als Verbindungselement genutzt wurde, um Radachsen und Wagenobergestell zu verbinden. Später wurden Bänder aus Eisen verwendet, die Ober- und Unterteil noch steif zusammenhielten, so dass Kräfte, die  auf den Wagenkorb einwirkten, das Fahrgefühl für Nutzer negativ beeinflusste.

Um Fahrqualität zu verbessern und damit immer mehr Eltern von dem Produkt Kinderwagen zu überzeugen, dass mindestens so schön als auch praktisch sein sollte, setzten Hersteller immer neue Maßstäbe an diesen Alltagsgegenstand, der sich im Laufe seiner Geschichte zu einem Kulturgegenstand entwickelt hat. So wurden einerseits viele verschiedene Federungen entwickelt und andererseits Straßen in den Städten ausgebaut und erneuert. Beispielsweise sorgte die Gummifederung von W. C. Fuller, für die er bereits 1855 ein Patent erhielt, für eine verbesserte Kräfteübertragung und hob somit die Bequemlichkeit und den Komfort für die passiven und aktiven Kinderwagenbenutzer an.16

Nur wenige Jahrzehnte später fand die Schneckenfeder aus kreisförmig gedrehten Flachstahl in der Kinderwagenindustrie Verwendung, weil sie Beweglichkeit und Biegsamkeit ermöglichte. Auf der Suche nach der optimalen Federung, um Fahrqualität zu gewähren und gleichzeitig eine relativ einfache und preiswerte Herstellung zu ermöglichen, gilt die Erfindung der Riemenfederung als wichtiger Meilenstein der Entwicklung. Das lästige Quietschen hatte somit endlich ein Ende gefunden. Um 1910 fand dieser Federungstyp verbreitet Anwendung und der Durchbruch war gelungen, so dass bis in die heutige Zeit hinein diese Art der Federung, wenn auch zum Teil verändert, überwiegend in Gebrauch genommen wird.

Der Wagenkorb bzw. -kasten eines Kinderwagens ist mit Sicherheit der Blickfang für Passanten und Käufer. Deshalb galt und gilt seit je her auch von seiten der Hersteller diesem Bestandteil eine besondere Aufmerksamkeit. Die Form- und Gestaltungsvielfalt des Kinderwagenoberteils, die sich im Laufe der Entwicklung derartig vergrößert hat, ist aus heutiger Sicht kaum noch zu überschauen.

Die ersten Kinderwagen bestanden entweder aus Holzkästen, wie auch aus geflochtenen Körben, wobei Weide aufgrund der Biegsamkeit und Festigkeit als Material überzeugte. Besonders am Ende des 19. Jahrhunderts dominierte Peddigrohr, dass für die Herstellung von Korbwagen bevorzugt eingesetzt wurde, in der Kinderwagenindustrie.

Mit Beginn des 1.Weltkrieges drehte sich der Wind in Europa und der ganzen Welt, sodass auch die deutsche Wirtschaft von den Ereignissen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der Außenhandel war nur beschränkt möglich, dadurch wurde Peddigrohr zu einer Mangelware verdammt. Ersatzweise wurde der Bedarf an Kinderwagenkästen über einen verstärkten Einsatz und Verwendung von Sperrholz und Prägepappe für die Fertigung geregelt. 17

Viele verschiedene Formen von Wagenkörben und –kästen kann man heutzutage in Städten beobachten. Es gibt zusammenfaltbare oder –klappbare, gemusterte, gestreifte, ein- bzw. mehrfarbige, große und kleine Oberteile, dem Ideenreichtum sind keine Grenzen gesetzt.

Gerade weil das Kinderwagenoberteil – der Kasten oder Korb – das Erscheinungsbild des Kinderwagens besonders prägte, waren kreative künstlerische Ideen gefragt. Ob kunstvollbemalter Holzkasten mit Leisten verziert, innen mit feinsten Ledertuch ausgeschlagen oder Kinderwagenkorb aus Weidengeflecht, innen mit Stoff ausgestattet, schon allein durch die Wahl von Form und Gestaltung des Kinderwagenkorbes oder -kastens kann man einen einfachen, praktischen Wagen von einem Luxuriösen unterscheiden. Obwohl beide Kinderwagen den gleichen Zweck erfüllen, strahlt der eine Kinderwagen vielmehr Klasse aus und erhebt die Nutzer in eine höhere Stellung als den des einfachen, schlichten Modells.

Oft blieb nur den Gutbürgerlichen und Adligen das Privileg verborgen, für jedes Kind das modernste und schönste Modell auswählen zu können. Jede Mutter wollte sich mit dem eigenen Kinderwagen von anderen Frauen abgrenzen: „Eine Bekannte erwartete 1928 ihr erstes Kind. Sie kaufte seufzend den teuersten und elegantesten Kinderwagen. Ich lachte sie aus. ,Wozu das Geld für etwas ausgeben, das Sie nur neun Monate lang brauchen. Denn dann steht das Kind auf und fällt aus dem Wagen. Sie brauchen dann einen Sportwagen. Meine Kinder sind in einem gebrauchten Wagen groß geworden.’ Sie antwortete: ,Das können Sie sich leisten, Herr Doktor. Ich nicht. Die ganze Straße würde mich über die Achsel ansehen, wenn ich mit einer alten Zeitungskutsche daherkäme!’ “Sozialprestige“ nennen die Soziologen das.“18

Als eine wichtige Schutzeinrichtung am Kinderwagen gilt das Verdeck, dass das Kind vor Sonne, Regen und Staub schützen soll. In der Mitte des 19.Jahrhunderts bildeten die Verdecke mit den Wagen zusammen eine feste Einheit und sie waren bespannt mit Stoffen. Durch das Einsetzen von Bügeln aus Holz, später Eisen, in den 70er Jahren des 19.Jahrhundert war eine günstige Möglichkeit geschaffen worden, Verdecke auch zusammenklappen zu können.

Später entwickelte man sogar Verdecke, die sich von dem Wagen abnehmen ließen und wenn gewünscht durch spezielle Halterungen anbauen und fixieren ließen. Durch Gelenkteil aus Eisen, sogenannte Sturm-Stangen, war es möglich geworden, dass das Verdeck im aufgeklappten Zustand gehalten werden konnte. So konnten Verdecke, wenn sie benötigt wurden, als Schutzeinrichtung vor äußeren, für das Kind schädliche Stoffe fungieren. Jedoch gestaltete sich das Mitnehmen in Verkehrsmitteln, auf Reisen oder das Verstauen des Kinderwagen durch das abnehmbare Verdeck leichter. Dieser Vorteil sollte sich noch in den späteren Jahren auszahlen.

Außerdem sollte das Kind ja schließlich bei den Ausfahrten seine Umgebung kennen und beobachten lernen, sowie den Anspruch auf frische Luft und Sonne erfüllt bekommen. Bei schädlichen Witterungsverhältnissen wurde das Verdeck aufgeklappt, sodass weder Regen, Schnee, starker Wind oder stechende Sonne, zur Beeinträchtigung des Gesundheitswohl des Kindes führen kann. Zusätzlich fanden am Ende des 19.Jahrhunderts Vorrichtungen wie Sonnenschirme und Regenplane breite Zustimmung, da sie als weitere Schutzfunktion für das kindliche Wohl gedacht waren und gleichzeitig für die soziale Stellung der Familie sprach, denn nicht jeder konnte sich solche luxuriöse Extras leisten.

Um das Notwendige mit dem Schönen zu verbinden, kamen schon frühzeitig Borten, kurze Gardinen und Fransen in Mode, die als Verzierungen dienten und gleichzeitig das Kind vor Schmutz und Staub schützte.

Besonders am Ende des 19.Jahrhundert als die Nachfrage nach Kinderwagen enorm anstieg, wollte jeder Hersteller sein Produkt von dem des Konkurrenten abgrenzen und so begann das eigentliche Zeitalter der Erfindungen und Entwicklungen rund um den Kinderwagen, sodass aus anfänglich schlichten Modellen formschöne und praktische Gefährte angefertigt wurden.18 Der Autor des Buches „Aber der Wagen rollt“, Herbert Schönebaum, äußerte sich folgendermaßen über die Veränderungen rund um das Transportmittel Kinderwagen: „Zuerst waren es Korbwagen mit großen, plumpen Rädern, später sorgten die Fabriken dafür, dass sie immer komfortabler wurden. Einmal dunkel, dann hell, erst auf gewöhnlichen Wagenfedern, dann in Lederriemen hängend, erst hoch, dann niedrig, erst mit engangefügter, dann mit geschwungen abstehender Lenkstange, erst mit Eisenbereifung, dann mit Gummireifen in aller Stärke, erst ohne, dann mit angebautem Körbchen für alle Utensilien der Säuglingspflege, erst mit steifer, aufzusetzender Plane aus Korbgeflecht, dann mit zurückklappbarer Wachstuchplane, erst alles Gestänge schlicht gestrichen, dann alles verchromt! Alle Errungenschaften der Technik, die sich irgendwie anbringen ließen, wurden wahrgenommen und dem Benutzer und Käufer angeboten.“19

Das Ziel der verschiedenen Firmen beruhte darauf möglichst viele Interessenten von den eigenen Modellen zu überzeugen. Die Verwendung von verschiedensten Materialien sollte den zeitgenössischen modischen Aspekt steigern, der bis heute als ein ausschlaggebender Grund für den Kauf angesehen wird.

Welche Ausmaße das Konkurrenzstreben hatte, zeigt die Tatsache, dass Herstellerfirmen bis zu 100 verschiedene Modelle produzierten. Regelrechte Modellschwemmen waren das Ergebnis von dem Willen die eigenen Modelle für eine große Bevölkerungsgruppe attraktiv erscheinen zu lassen, um für jeden Käufer und dessen finanzielle Möglichkeiten ein entsprechendes Gefährt im Angebot zu haben.20 Sicherlich waren die teuersten meist nicht viel praktischer als günstigere Modelle, jedoch sprach und spricht auch heute noch das Aussehen und die Ausstattung eines Kinderwagen über die sozialen Hintergründe Bände.

 

Unglaublich viele Patente, die sich nur rund um das Thema Kinderwagen drehen, sprechen für das Streben der Hersteller nach technischer Vervollkommnung und für die große Bedeutung des Siegeszug des Kinderwagens. So dass bis in die heutige Zeit hinein, Eltern weder Kosten noch Mühen scheuen, um ihrem Kind das bestmöglichste Fahrzeug anzuschaffen.

So wurde schon 1881 ein Patent auf einen Wende-Pram angemeldet, dessen Schiebestange zu beiden Enden hin gezogen werden konnte. Weiterhin gibt es mehrere angemeldete Patente für Federungen, beispielsweise ist die Hängematten- Federung registriert.


 

14 Begleitheft des Zeitzer Kinderwagenmuseums, Zeitz, 1996, S.13

15 Sturm-Godramstein, Heinz: Kinderwagen gestern und heute, Bad Vilbel, 2001, S.42/43

16 Sturm-Godramstein, Heinz: Kinderwagen gestern und heute, Bad Vilbel, 2001, S.45

17 Begleitheft des Kinderwagenmuseums Zeitz, Zeitz, 1996, S.14

18 Neubert, Rudolf: Das Kleinkind, Berlin, 1975, S.132

19Schönebaum, Herbert: Aber der Wagen rollt, Leipzig, 1952, S.72

 

20 Sturm-Godramstein, Heinz: Kinderwagen gestern und heute, Bad Vilbel, 2001, S.59