KINDER ! WAGEN e.V.

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Soziale Hintergründe und historische Aspekte

 

Im 19. Jahrhundert vollzogen sich tiefgreifende und zukunftsweisende Einschnitte in der Wohn- und Arbeitswelt. So waren bisher diese 2 Wirkungsebenen der Bürger und Arbeiter eng miteinander verbunden. Eine große Haushaltsfamilie, bestehend aus Verwandten verschiedener Generationen, lebte zusammen und bildete eine Arbeitsgemeinschaft, die unter Führung des Hausherren der Arbeit nachgingen. In der Stadt und auf dem Land war diese Form des familiären Zusammenlebens bis in das 19. Jahrhundert zu beobachten, bei dem der Hausherr die Familie repräsentierte. Gleichermaßen erschloss sich aus der Aufgabenverteilung die Stellung einzelner Familienmitglieder und deren Rechte. Der Haushalt, die Betreuung und Erziehung der Kinder, sowie kirchliche Angelegenheiten fielen in den Aufgabenbereich der Frau. Als Alters- und Rentenvorsorge galt der reiche Kindersegen, da es kein staatlich geregeltes Sicherungssystem gab, dass den Leuten mit Alter oder Krankheit Unterstützung lieferte. Ansonsten war es der Frau weitestgehend versagt eigene Entscheidungen und Interessen durchzusetzen, viel mehr galt es, dem Ehemann in jeder Hinsicht seinen Ansichten beizupflichten. Zu dieser Zeit ist die Rolle der Frau durch eine starke Abhängigkeit und untergeordnete Stellung gekennzeichnet, die sich auch in anderen Lebenssituationen widerspiegelte. Die zeitgenössische Gesellschaft, geprägt durch eine „männliche, auf Systemstabilität ausgerichtete Lebenswelt“19, war noch weit entfernt von einer partnerschaftlichen Ordnung, in der Mann und Frau entsprechend ihrer Möglichkeiten gleiche Pflichten und Rechte genießen.

 

Die einsetzende Trennung von Privat- und Arbeitsleben im 19.Jahrhundert während der Zeit der Industrialisierung, von der vorrangig Land- und Fabrikarbeiter betroffen waren, beeinflusste zunehmend das familiäre Zusammenleben. Angewiesen auf den Arbeitslohn, waren die Männer gezwungen unter schlechtesten Bedingungen der Arbeit nachzugehen, um die Familie einigermaßen ernähren zu können. Hohe Arbeitszeiten und unhygienische, gesundheitsschädliche Verhältnisse gehörten zum tristen Alltag der einfachen Leute. Der Mann übernahm damit die wichtige Rolle des Ernährers, konnte aber unmöglich gleichzeitig anderen Pflichten nachkommen, die er bisher in seinem Amte ausgeführt hatte. Folglich änderte sich die Stellung der Frau und deren Aufgaben- und Verantwortungsbereich stark. Obwohl der Mann geregelter Arbeit nachging, erforderte die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland, wie in Europa eine Mitarbeit der Frau und Kinder, um das Überleben der Familie zu sichern. Auch fehlende staatliche Unterstützungen, wie Arbeits-, Renten- und Krankenversicherungen, sowie kein ausreichendes Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, erschwerten die Situation der Frau in ihrer Doppelbelastung. Um trotzdem ihre vielseitigen Pflichten erledigen zu können, war es nötig, selbstständiger und mobiler zu sein. Viele Erfindungen und Entdeckungen kennzeichneten das Zeitalter der industriellen Revolution, die ausgehend von England um 1850 auf Deutschland überschwappte, und verbesserten zunehmend die wirtschaftliche Lage der Arbeiter. Neue Erkenntnisse in allen Naturwissenschaften, in der Wirtschaft praktisch umgesetzt, brachten der deutschen Wirtschaft einen starken Aufschwung und am Ende des 19.Jahrhundert gehörte Deutschland zu der führenden Industrienationen. Verbesserte Lebens- und Wohnbedingungen waren die Folge von staatlichen Eingriffen in das Sozialwesen, die Familien entlasteten und ihnen neue Freiheiten verschaffte. Die Sozialgesetze Bismarcks traten 1883, 1884 und 1889 in Kraft und regelten die Versorgung von Kranken, Unfallopfern und Alten. Der Wohnungsbau konnte dem rasanten Anwachsen der städtischen Bevölkerung nur bedingt Stand halten, so dass Familien in engsten Zimmern hausten. Der Wunsch nach Bewegung und Aufenthalt im Freien wurde immer lauter. Es mussten Möglichkeiten geschaffen werden, die die Mitnahme des jüngsten Familienmitgliedes realisierten. Als bedeutender Schritt ging die Entstehung des Kinderwagens in die Geschichte ein. Von Anfang an fanden alle Typen von Kinderwagen regen Absatz.

Ein deutlicher Rückgang der Kindersterblichkeit war durch neue Wissenszuwächse in der Pädiatrie, der Geburtshilfe, Kinderpflege und Sozialhygiene erreicht worden. Gleichfalls wurden neue Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen im Umgang mit Kindern, die unter anderem das tägliche Ausfahren mit Kind und Kinderwagen empfahlen, eingeführt.

Die Bedeutung des Kindes wuchs innerhalb kürzester Zeit an. Einst als Arbeitskraft und Altersvorsorge nützlich, inzwischen durch verbesserte Lebensbedingungen und geregelte soziale staatliche Hilfen, wurde es zum Liebling jeder Eltern. Daraus ergab sich frühzeitig der Wunsch sein Kind auch anderen zu zeigen. Jede Mutter trug ihr Kind im Kinderwagen zur gern Schau.

Zu beobachten war, dass es nur selten noch traditionelle Großfamilien mit einer ganzen Schar Kinder gab. Die Aufmerksamkeit der Eltern verteilte sich auf weniger Kinder, so dass dem Kind eine sehr wichtige Position in der Familie zu teil wurde. In gut situierten Häusern genossen die Jüngsten eine eher unbeschwerte Zeit. Die Geschichtsforschung spricht davon, dass sich im 19. Jahrhundert Kindheit als soziale Kategorie in vollem Umfang herausbildete.

Auch der Kinderwagen musste deshalb etwas Besonders, durch Form, Ausstattung und qualitativ hochwertiges Material sein. Nicht wenige Mütter überstiegen dabei ihre finanziellen Grenzen. Der Verfasser der Zeitschrift „Gesundheit“, Dr. Ruff, gibt in seinem Buch „Die junge Mutter“ folgende Ratschläge zum Ausfahren, die zeigen wie sehr hygienische Ansichten mit Sozialprestige verbunden werden können: „Zum Aufenthaltsort im Freien wähle man vom Straßenlärm weitab liegende, nicht von Rauch und sonstigen Schädlichkeiten der Fabriken [...]. Um Ihnen nun auch noch Gelegenheit zu geben, mit Ihrem Kinde Staat zu machen, will ich bemerken, daß gegen Austraghäubchen absolut nichts einzuwenden ist.“20

Sicherlich müssen hier klare Unterschiede zwischen Gutbürgerlichen oder Adligen und Arbeiterfamilien gemacht werden. Doch das Ziel Kind und Kinderwagen zu repräsentieren war überall zu finden.

Erst mit der Zeit war es gelungen, Skeptiker und Zweifler von dem neuen Mobil für Kinder zu überzeugen. Anfangs wurde der Kinderwagen als gewöhnliches Fahrzeug behandelt, deshalb mussten Steuern gezahlt werden und es galten gleiche Straßenverkehrsregeln, wie für andere Fahrzeuge. Erst mit zunehmender Anerkennung und großer Beliebtheit war es gestattet, Fußwege zu benutzen, die durch Ausbau und verbesserte Beläge auch eine angenehmere Fahrqualität erzeugten. Hersteller und Konstrukteure lieferten ihren Beitrag zur Verbesserung der Fahreigenschaften durch intensive Forschung an verschiedensten Bestandteilen z.B. der Federung und den Rädern, sowie deren Bereifung. Der Form und der Ausstattung des Kinderwagens wurde besondere Aufmerksamkeit zuteil. Eine reichliche Auswahl an Modellen wurde der breiten Bevölkerung angeboten, bei der für die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten in Schönheit und Preis Differenzen gemacht wurden, so dass ein Kinderwagen für jeden erschwinglich war.

Mit zunehmenden Freiräumen, die durch den Ausbau des Schienennetzes und der Möglichkeit des Fahrens und Reisens aufkamen, sorgten Erfindungen rund um den Kinderwagen für einen unkomplizierten Transport. Zusammenlegbar und nicht zu schwer, mussten die Wagen sein. Erstmals 1902 wurde der britischen Öffentlichkeit ein Prototyp eines Sportwagens vorgestellt, der aus Stahl und Holz gefertigtwar.21

In den nächsten Jahren folgten viele Firmen diesem Modell und konstruierten Wagen, die auf verschiedenste Weise zusammenlegbar oder zusammenfaltbar waren, so dass sie leicht verstaut werden konnten.

Dem Wettstreit zwischen Korb- und Holzkastenwagen, bei dem geschmacksabhängig immer mal der eine oder andere Typ dominierte, wurde 1914 ein jähes Ende gesetzt. Die Herstellung der Korbwagen musste auf den vielgefragten Rohstoff Peddigrohr verzichten, da der Handel mit dem Material aus dem Urwald während der Kriegsjahre nicht stattfinden konnte. Außerdem stellten Fabriken der Korbherstellung ihre Produktion auf Korbwaren des täglichen Bedarfs um, die in der Kriegszeit als wichtige Gebrauchsgegenstände benötigt wurden. Ersatzweise sicherte die Verwendung von Schichtholz die Herstellung der Wagenkörper. Zwischenzeitlich begann die Suche nach neuen Materialien, die sich für die Kinderwagenherstellung eignen könnten. Ein bedeutender Schritt gelang um 1928 dem Engländer Walter Lines mit der Verwendung von gepressten Stahlblech zur Herstellung des Wagenkörpers.22 Kreativität und Ideenreichtum waren gefragt, wenn es um die Gestaltung und Ausstattung noch schönerer und noch extravaganterer Wagen mit allen ihren Details ging. Erstaunend ist festzustellen, dass auch schon damals vieles möglich war, wenn es Umsatzsteigerung und Verkaufsförderung ging.

Durch Veränderungen und Erneuerungen am Kinderwagen, wie z.B. das Einlassen eines Hohlraums unter der Liegefläche des Kindes, der als Wäsche- ,oder in Grenzregionen auch gelegentlich als Schmuggelfach genutzt worden war, wurde die praktische Tauglichkeit des Kinderwagens angehoben. Es gab aber auch Verbesserungen, die lediglich zur Vervollkommnung von Form und Gestalt des Wagens beitrugen und damit die Klasse und Luxus verdeutlichten.

Materialien wie Chrom, Lacke, Porzellan und Emaille , die aus der Industrie bekannt waren, fanden in der Herstellung für Kinderwagen auf der Suche nach dem Schönen und Außergewöhnlichen Verwendung. Der Kinderwagen wurde durch eine Email-Schiebestange nicht leichter steuerbar, einzig und allein die Tatsache etwas luxuriöses zu besitzen und sich von anderen abzugrenzen, lohnte die Kosten dieser Anschaffung. Dass Frauen auch gegen den gesunden Menschenverstand einen starken Willen haben können, wenn es um Extravaganz und Luxus geht, zeigt sich an der Geschichte um die Lederausstattung. Obwohl Ärzte vor dem Gebrauch von Leder als Kinderwagenausstattung warnten, da zu wenig Luft durchlassen würde, mussten auch die Hersteller den Forderungen der Frauen, nach dem glatten und exquisiten Material nachgeben, so dass schon bald die Lederpolsterung in noblen Fahrzeugen Gang und Gebe war.

Die Entwicklung des Kinderwagens ist gekennzeichnet durch ständiges Forschen und Feilen, um immer wieder neue Wagen durch zusätzliche Erfindungen und Verbesserungen zu kreieren. Die Suche nach neuen Werkstoffen, die sich als Verarbeitungsmaterial eignen und aufgrund ihrer Qualität andere in den Schatten stellen, ging fortlaufend weiter.

Die Kriegsereignisse des zweiten Weltkrieges, ähnlich wie die des ersten Krieges schon einige Jahre zu vor, beeinflussten die deutsche Industrie zunehmend. Nachdem seit Kriegsbeginn große Erfolge von seiten der deutsche Armee gegen Polen, Dänemark, Belgien, Niederlande und Frankreich zu verzeichnen waren, drehte sich 1943 das Blatt entgültig, bei dem die ausweglose Situation an den Fronten abzusehen war. Doch eine Niederlage wollte die nationalsozialistische Regierung um Reichskanzler Adolf Hitler nicht zu lassen, so dass alles und jeder in Deutschland auf den Krieg und den sogenannten Endsieg ausgerichtet wurde. Es gehörte zum guten Stil einer deutschen Familie, dass möglichst mehr als 3 Kinder geboren wurden. Die Kinder an sich waren nicht so wichtig, sondern ihre Funktion als Soldaten im Krieg war ausschlaggebend. Der Bedarf an Kinderwagen wuchs. Auch in der Industrie wurde ab 1943 alles auf die Produktion von Kriegsmaterial ausgerichtet. Andere Bedürfnisse der Bevölkerung wurden vernachlässigt, wovon die Kinderwagenherstellung nur ein Beispiel von vielen ist. Aus der Not eine Tugend gemacht, verwendete man in Kriegszeiten ersatzweise Holz, da die Metallknappheit den Bau von „Blechbüchsen“, wie die Wagen aus Stahl und Aluminium genannte wurden, verhinderte, wenn es überhaupt noch möglich war derartige Luxusartikel zu produzieren. Der Volkswagen, ein Modell um 1940 der Firma Diamant, war sehr schlicht und einfach in seiner Form und Ausstattung. Doch es galt lieber diesen Wagen als gar keinen. In solchen Notzeiten galten die Sorgen der Menschen weniger solchen materiellen Objekten, die sie nicht kaufen konnten, als viel mehr ihren Männern und Söhnen im Krieg und der Angst um das tägliche Überleben.

Nach dem Krieg konnten Hersteller und Konstrukteure wieder ungehindert ihrer Arbeit nachgehen. Durch die Teilung Deutschlands verliefen die Entwicklungen in beiden Staaten hinsichtlich vieler Dinge sehr unterschiedlich, wie sich auch an den Kinderwagen zeigen lässt.

Während die Wirtschaft in der BRD durch den Marshall-Plan, ein Unterstützungsprogramm der Westmächte, zügig in Gang bebracht wurde und bald Anschluss an andere führende Wirtschaftsnationen gefunden hatte, verlief der Aufschwung in der DDR wesentlich langsamer. Die politische Eiszeit zwischen den beiden deutschen Staaten wirkte sich auch auf die Wirtschaft aus, so dass so gut wie keine Handelsbeziehungen in Anspruch genommen wurden. Größten Wert legte man darauf, dass Materialien nicht für teure Devisen eingekauft werden mussten. Die wirtschaftliche Lage in der DDR zeichnete sich durch Knappheit an Materialien aus. Um so erstaunlicher ist es, dass es Konstrukteuren immer wieder gelang mit viel Kreativität und einfachen Mitteln schlichte, aber formschöne Wagen zu fertigen. Die Auswahl an Kinderwagen, wie für alle Konsumgüter, beschränkte sich auf wenige Modelle. Auch in Gestaltung und Ausstattung gab es wenige Differenzen zwischen den einzelnen Exemplaren. In der DDR, geführt von einer sozialistischen Regierung, die das Ziel der Gleichheit in Rechten und Pflichten aller Menschen anstrebte, sollten auch materielle Güter keine Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten aufkommen lassen. Die Materialknappheit und die ideologischen Ansichten der Regierung bestimmten die geringe Auswahl an verschiedensten Gütern. Hingegen florierte durch die enge Zusammenarbeit und Aufbauhilfe der Westalliierten nach dem 2.Weltkrieg die westdeutsche Wirtschaft, so dass ein reichliches Angebot an Waren vorzufinden war.

Heute kann man immer noch die Vielfalt an Wagen und deren Gestaltungen beobachten. Besonders beliebt sind kleine, sportliche Modelle. Doch bei dem Streben nach immer leitungsfähigern und modischern Kinderwagen, kommen oftmals Sicherheitsaspekte zu kurz. Beispielsweise warnte im Jahr 2001 „Ratgeber Technik“ vor der Benutzung von Wagen mit Schwenkschiebern, da bei mehreren Modellen die Kunststoffgelenke dem Druck nicht lange Stand halten konnten. Immer wieder lassen Unfälle, bei denen Kinder schwere Schäden davon trugen, Fragen nach verstärkten Sicherheitsprüfungen und Belastungstests aufkommen. Untersuchungen von verschiedenen Verbraucherorganisationen wiesen auf erschreckende Sicherheitsmängel an Sportwagen und Buggys. Sowohl Schadstoffe, die während der Herstellung mit dem Produkt in Berührung kamen, ungenügende Komforteigenschaften, die damit körperliche Beeinträchtigungen beim Kind hervorrufen könnten und technische Fehlkonstruktionen wurden festgestellt. Gerade eins von 14 getesteten Produkten erhielt das Prädikat “gut“ bei der Testreihe von Ökotest im Jahr 2001. Durch Medien stark in die Kritik geraten, setzen Hersteller verstärkt auf zusätzliche Sicherheitstests. Achten sollte man deshalb beim Kauf auf Prüfzeichen und die angegebene Bewertung.


 

19 Großmann, Leonhard: Familie im Wandel der Zeit, 2001, Görlitz, S.9

20 Dr.Ruff, Josef: Die junge Mutter, Straßburg, 1889, S.115

21 Sturm-Godramstein, Heinz: Kinderwagen gestern und heute, Bad Vilbel, 2001, S.50

22 Sturm- Godramstein: Kinderwagen gestern und heute, Bad Vilbel, 2001, S.51